Ich lerne noch
„Ich lerne zu wandern wie der Wind, der suchend durch die Straßen geht und das letzte knisternde Laub mit sich trägt, wie die perlenden Gewässer, die sich als Lebensadern in die Weite der Landschaft verzweigen, wie der Zugvogel, der immer wieder eine beschwerliche Reise auf sich nimmt, um dort zu sein, wo Leben möglich ist. Ich lerne, nicht stehen zu bleiben am sicheren Ort ohne Wagnis, am vertrauten Gedanken, in der Wärme der Anerkennung und in den Grenzen des Erwartbaren.
Immer wieder lasse ich sie hinter mir, die trügerische Fata Morgana des Angekommenseins. Denn Leben heißt, sich bewegen zu lassen vom Klang des Fremdartigen, vom Schmerz, der nach Linderung verlangt, von der Lust des Lebens, sich zu vertiefen. Und Leben heißt, an vielen Orten leises Glück zu finden wie im Vorübergehen.
Ich lerne, mutig zu sein, wie der erste Regentropfen, der auf die harte Erde fällt, wie dem Keim, der geduldig seine Kräfte sammelt, um die dunkele Schwere der Erde zu durchbrechen, wie die Taube, die im Revier der Katze nistet. Ich lerne, dem Leben zu vertrauen, das mich ruft, das mich webt, bis hinein in meine Träume, und das mich will, mit Haut und Haar und meinen schöpferischen Händen.
Immer wieder durchschreite ich ihn, den engen Felsspalt der Furcht, hinter dem die Weite atmet. Denn Leben heißt, sich fallen zu lassen in die wohlwollenden Ströme des Werdens, in die unversehrte Seligkeit des Augenblicks und in die Abgründe, die kein anderes Licht haben als unseres. Leben heißt, sich immer wieder selbst zu vergessen, um sich reich beschenkt in der Stille aller Dinge wiederzufinden.“
~ Giannina Wedde: In winterweißer Stille (2021), Seite 184-185